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Spin-Off

von Matthias Franz

 

  Das Klappern der Schreibmaschine vermischte sich mit dem Klopfen des Regens, der gegen die verschmutzten Fensterscheiben fiel. Schon lange hatte Roman Geist seine Fenster nicht mehr geputzt. Er saß in seiner Ein-Zimmer-Wohnung, die auf einen eintretenden Besucher sicherlich einen abenteuerlichen Eindruck gemacht hätte, wenn denn jemand eingetreten wäre. Aber erstens war abenteuerlich nur ein Euphemismus für "verwahrlost", und zweitens: Wer hätte denn eintreten sollen? Es interessierte sich keiner mehr für ihn. Er war ein Nichts, ein Niemand. Und doch: Eines Tages würde er ganz groß herauskommen. Bestsellerautor wäre er dann. Grinsend fuhr er sich über seinen Bart. Wann er sich das letzte Mal rasiert hatte? Er wußte es nicht mehr. Im Zimmer stank es, Ratten huschten über den Estrich, von dem sich das zerschlissene Parkett längst abgelöst hatte. In der Spüle stapelte sich das Geschirr – an jedem Teller hingen angetrocknete Speisereste. Wenn Roman je etwas aß, dann war es aus Konservendosen, die er irgendwo in seinem Zimmer in einem Regal aufbewahrte. Spaghetti, Ravioli, hunderttausend Sorten von Suppen oder texanischer Bohnentopf ("Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen", pflegte er zu sagen, während er sich genüßlich furzend wieder an seine Schreibmaschine setzte).

Roman Geist bezog Sozialhilfe – mehr oder weniger – und er verließ das Haus nur dann, wenn es wirklich nötig war. Er aß, wenn er Hunger hatte, schlief, wenn er müde war, wusch sich fast nie und trank, wenn er deprimiert war, und das war er fast immer. "Hemmingway war auch besoffen, als er schrieb", gurgelte er.

Aber das Schreiben war nicht einfach. Immer wieder hatte er das Papier aus der Schreibmaschine zerknüllt und in eine Ecke geworfen, jene Ecke, in der der Papierkorb stand, der aber nun unter einem Haufen zerknüllter Schreibmaschinenseiten begraben lag. Roman Geist nahm einen Schluck aus seiner Jack-Daniels-Flasche und glotzte hilflos auf das Blatt Papier, das vor ihm eingespannt war. Seit Monaten arbeitete er an seinem ersten Kapitel. Eine Geschichte über einen reichen Schriftsteller, der in einer großen Villa wohnte. Mit Park und eigenem Gärtner. Ohne die großen Sorgen, die er hatte. Dafür hatte er andere Sorgen. Die Frau dieses Schriftstellers in seiner Geschichte war gestorben. Romans Freundin hatte ihn verlassen – vor nicht allzu langer Zeit, aber bevor sie ihn beim Radiosender rausgeschmissen hatten, weil seine Sendung Night Line nicht mehr ins neue, durchgestylte Format des Senders gepaßt hatte – und weil man ihn außerdem vor den Kadi geschleppt hatte und ihn beschuldigt hatte, mit der Ermordung eines Lektors mit Namen Josef Braun zu tun gehabt zu haben. Natürlich hatte er nie mit irgendeinem Mordfall etwas zu tun gehabt. Er hatte nur eine harmlose Geschichte im Radio vorgelesen – und die Richter hatten ihm das auch abgenommen und ihn freigesprochen. Wie hätte er auch ahnen können, daß Josef Braun auf eine ähnliche Art und Weise umgekommen war wie eine erfundene Figur in seiner Geschichte?

Roman blickte auf sein Blatt Papier. Grausam! Voller Klischees! Er schüttelte den Kopf, zündete sich eine Zigarette an. Dieser reiche Schriftsteller in seiner Geschichte, war er nicht eine Wunschvorstellung, das, was er mal sein wollte? Zu viele Klischees!

Die Augen des alten Schriftstellers füllten sich mit Tränen, als er an Elisabeth dachte, die sanfte Natur, die er so über alles geliebt hatte. Er erinnerte sich noch, wie er sanft ihre Hand hielt, als sie auf dem Totenbett lag – die Rose war verwelkt, sein Leben hatte jegliche Bedeutung verloren. Jetzt war er allein – allein mit seiner Villa, mit seinem Personal nebst Gärtner – allein mit seinen Erinnerungen, schöne Erinnerungen, aber kummervoll in der Rückschau...

Schöne Erinnerungen, aber kummervoll in der Rückschau – Roman fröstelte. Wo war sein Talent geblieben? Früher hatte er wirklich bessere Sätze formuliert. Bei weitem bessere Sätze.

Erinnerungen, die seinen müden Geist belebten, die ihn noch einmal in sein Arbeitszimmer lockten, jenes Zimmer in der Mitte der Villa, wo der großartige Ausblick auf den Park immer seine Phantasie beflügelt hatte. Erinnerungen, die ihn inspirierten zu neuen Geschichten, Geschichten, die aus einer unbekannten Region seines Gehirns in seine Finger flossen, die dann im Zusammenspiel mit der Tastatur in Worte und Sätze formuliert wurden – der immer wieder schöpferische Akt eines Schriftstellers, der doch nicht der Schöpfer war, sondern der erste Leser seiner Kreationen.

Oder war er doch der Schöpfer? Tat er sich deswegen so schwer, weil er alles selber aus den Finger saugen mußte, während er seine Gehirnmasse zermarterte, um wenigstens einmal in seinem Leben eine einigermaßen geistreiche und doch am Geschmack des Lesers orienterte (ganz gleich, ob es sich dabei um einen Durchschnittsleser oder um einen geneigten Leser handelte) Geschichte zu Papier zu bringen? Diese Umgebung... die verwahrloste Wohnung, in der Ratten und Küchenschaben berauschende Feste feierten – und das im wahrsten Sinne des Wortes, wenn sie sich an den Pfützen des verschütteten Whiskys labten – taugte denn diese Umgebung überhaupt dazu, daß er eine einigermaßen gute Chance hatte, von einer Muse geküßt zu werden? Oder ließen sich die Musen in den Palästen nieder und nahmen vor dem armen Poeten in seiner Dachkammer Reißaus?

Diese Umgebung, diese alten Bäume im Park – das beflügelte ihn, und schon bald bevölkerten in klarer Times New Roman Buchstaben den Bildschirm, die sich zu Sätzen formten. Ab und zu, wenn die Story es erforderte, schaltete er auf Courier New um, um die Schreibmaschine seiner Figur zu imitieren...

Roman starrte auf diese Zeilen... Wer schrieb hier über wen? Gerade noch hatte er mit der Story des reichen Schriftstellers begonnen, da wurde sie ihm langsam unheimlich. Hatte ihn doch eine Muse geküßt? Schrieb er jetzt über jemanden, der über ihn schrieb?

Der alte Mann schüttelte den Kopf. Zu viele Klischees. Ratten, Kakerlaken, Konservendosen... Er war nie wirklich arm gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, ein armer Poet zu sein – und das in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Der Einfall mit der Whiskeypfütze war nicht schlecht, aber der Gestank würde doch jeden vernünftigen Menschen anspornen, einen feuchten Lappen zu nehmen und dafür zu sorgen, daß die Pfütze verschwand.

Roman blickte auf die Pfütze. Sie war da. Hieß das, er wäre kein vernünftiger Mensch? Oder übergab er sich jetzt wieder der Selbstkritik? Warum schrieb er nur solche dummen Geschichten? Ein alter, reicher Schriftsteller, der über ihn, einen jungen, armen Schriftsteller schrieb? Gerade wollte er das Blatt Papier aus der Schreibmaschine herausreißen und es in die Ecke schleudern, wo es seiner Meinung nach hingehörte. Er stutzte. Könnte es möglich sein, daß...

Der alte Schriftsteller überflog nochmals die Zeilen. Dann fuhr er mit der Hand an seine Stirn. Er hatte es tatsächlich fertiggebracht, sich selbst zur Figur in der Geschichte seiner Figur zu machen. Oder war er jetzt selber nur die Figur einer Geschichte, die den wahren Autor als seine Figur in einer Geschichte verwendete? Sollte er dies vielleicht als den Rahmen einer Autobiographie verwenden? Er schüttelte den Kopf. Die Figur des Roman Geist hatte er entworfen – die Geschichte, an der Roman Geist schrieb war nur Beiwerk. Das Buch, an dem er schrieb, war ein Kriminalroman, der im Millieu der Unterschicht in der Mannheimer Neckarstadt spielte.

Roman Geist sprang auf. Ein gelungener Geniestreich! Er selbst als Figur in einer Geschichte, die seine Hauptfigur schrieb. Die Leser würden vor Freude ausflippen. Der Mann hat Ideen!, würden sie sagen! Wahnsinn! Dabei war das nur Beiwerk. Das Buch, an dem er schrieb, war ein Kriminalroman, der im Millieu der Oberschicht in der Mannheimer Oststadt spielte.

Der alte Schriftsteller überflog nochmal die Zeilen. Was hatte er jetzt gemacht? Er fing nochmal am Anfang an, las alles Satz für Satz durch. Dann fing er wieder von vorne an, las wieder alles durch, fuhr mit seiner Hand durch das zerfurchte Gesicht und fing wieder von vorne an. Aber je mehr er davon las, desto mehr verfing er sich in der Geschichte. Er fing an, an seiner Identität zu zweifeln. War er wirklich der Schriftsteller, oder war er die Figur und wurde tatsächlich von demjenigen erschaffen, den er glaubte, erschaffen zu haben? Es war wie ein Möbiusband. Es wollte kein Ende nehmen.

Roman gefiel die Idee mit dem Möbiusband. Ihm fielen auf Anhieb noch die berühmten unmöglichen geometrischen Figuren ein – oder das Bild vom Wasser, das auf der einen Seite hinabfloss und auf der anderen Seite mit einem rauschenden Wasserfall herunterstürzte. Es war genial – aber war es wirklich seine Idee? Oder war er tatsächlich zur Figur des anderen Schriftstellers geworden – eine Figur in einem Roman, den jemand anderes schrieb? War vielleicht nicht das ganze Leben ein Roman?

Nein, zu platt – das Leben ist kein Roman. Das haben schon zu viele drittklassige Autoren geschrieben, und er war – verdammt nochmal kein drittklassiger Autor. Er war, verdammt, was war er denn?

Ja, verdammt, was?

VERSCHWINDE ENDLICH AUS MEINEM LEBEN!

Verschwinde du doch!

Ich bin...

erfunden

Fiktion. Man hat mich

erfunden.

Erfunden

Lebe ich in der Realität?

Bin ich eine Figur aus einem Roman?

Existiere

ich?

Gibt es uns?

An diesem Abend wurden zwei Schriftsteller in einer psychiatrischen Klinik eingewiesen. Keiner von beiden hat seitdem in seinem Leben auch nur einen Satz geschrieben.


Kontakt: mail(at)matthias-franz(punkt)de
 
 

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